Jenfeld-Galerie

Gemeinsam den Stadtteil gestalten: Der Graffiti-Künstler BROZILLA,

der Autor Nils Mohl und die Jenfeld-Galerie

Der Graffiti-Künstler BROZILLA und die Jenfeld-Galerie


Was bewirkt Street Art im öffentlichen Raum? Können Graffiti einen Stadtteil aufwerten, wenn die Bewohner*innen mitmachen? Der Künstler BROZILLA hat es in Hamburg-Jenfeld ausprobiert.

© BROZILLA: gemeinsam mit Monika Wolff

Offenheit


BROZILLA ist überrascht. Mit so viel Sympathie und Zustimmung hat er nicht gerechnet. Neugierig geht der Graffiti-Künstler, der mit bürgerlichem Namen Gerrit Fischer heißt, auf die Bewohner*innen im Stadtteil zu. An der Außenfassade des Jenfeld-Hauses solle ein riesiges Graffiti entstehen, erzählt er ihnen. Auf der Wand am Parkplatz würden ab dem Hochsommer Gesichter von Jenfelder*innen zu sehen sein, verschiedene Menschen  künstlerisch ein wenig verfremdet, kombiniert und mit der Sprühdose an die Wand gemalt. Grundlage für das Graffiti-Werk seien Porträtfotos, erklärt BROZILLA weiter. Die Fotografin Monika Wolff würde sie gleich hier vor Ort im Bild festhalten, wenn die Jenfelder*innen einverstanden seien.

Gesehen werden


99 % der angesprochenen Bewohner*innen sagen spontan JA. Und wollen mehr wissen: über Graffiti allgemein, ob sie offiziell erlaubt seien, wie das mit dem Sprühen überhaupt so ginge und wer noch alles auf die Fassade käme. Gerrit alias BROZILLA und Monika erzählen, was sie vorhaben. Initiator des Projektes ist das Jenfeld-Haus, das noch weitere Unterstützer von der Graffiti-Idee begeistern konnte: die Freie und Hansestadt Hamburg bzw. das Bezirksamt Wandsbek als Förderer im Rahmen von RISE, dem Rahmenprogramm Integrierte Stadtteil-Entwicklung, sowie als Partner im Stadtteil verschiedene Institutionen, die alle ein gemeinsames Ziel haben: Sie wollen der Jugend-, Kultur- und Sozialpolitik und vor allem der Quartiersentwicklung Flügel verleihen.

© Jenfeld-Haus

Gehört werden


Aus der spontanen Fotoanfrage entwickeln sich längere Gespräche. Ein älterer Jenfelder erzählt, er sei 1961 als einer der ersten Gastarbeiter nach Hamburg gekommen. In Jenfeld hat er eine neue Heimat gefunden und fühlt sich wohl im Quartier. Er schätzt das Miteinander der vielen Kulturen, besonders das unterschiedliche Essen. Eine junge Frau antwortet auf die Frage, ob sie denn einen Lieblingsplatz im Stadtteil habe, ohne überlegen zu müssen: “das Jenfeld-Haus“. Hier würde sie Freund*innen treffen, reden, Neues erfahren, gemeinsam lachen. Genau das bedeutet Heimat für sie, ein Ort, an dem sie sich verstanden, vertraut und willkommen fühlt.

Wertgeschätzt werden


Viele Bewohner*innen sind glücklich, dass sich etwas in ihrem Stadtteil tut. Sie sind überzeugt, ein buntes Graffiti kann ein positives Lebensgefühl erzeugen – mit ihren lebendigen Gesichtern allemal! Mit dem Graffiti fühlen sie sich wahrgenommen, anerkannt, wertgeschätzt. Einen direkten Zugang zu den Menschen in Jenfeld zu schaffen, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, sie zu fragen und aktiv zu beteiligen – genau das ist den Ideenstiftern der Jenfeld-Galerie wichtig. In der Vergangenheit sei Jenfeld oft als benachteiligter und problematischer Stadtteil in die Medien und Schlagzeilen geraten, berichtet in einem weiteren Podcast-Interview der Jenfelder Autor Nils Mohl. Er habe lange überlegt, wie sich diese einseitige Wahrnehmung ändern ließe. Gemeinsam mit Olaf Schweppe-Rother, dem Geschäftsführer des Jenfeld-Hauses, sucht er nach anderen, positiven Bildern. In Gerrit Fischer alias BROZILLA finden sie rasch einen Verbündeten. Er erhält den Auftrag, mit Sprühdosen ein großes Wandbild zu malen.

© BROZILLA: in Aktion
© BROZILLA: on Love

Mission


Ein Fassadenbild kann viel bewirken, darüber sind sich alle einig. Das Wandbild am Jenfeld-Haus soll Auftakt und Impulsgeber für die neue Jenfeld-Galerie sein. Nach und nach sollen auf mehreren offiziell freigegebenen Flächen im Stadtteil immer neue Graffiti entstehen und unter freiem Himmel bewundert werden. BROZILLA hofft, dass die Jenfeld-Galerie den Stadtteil zusammenwachsen lässt. Durch die Hauptverkehrsadern ist Jenfeld etwas zerschnitten, die verschiedenen Areale sind voneinander abgetrennt. Was dazu führt, dass die Bewohner*innen meist in ihrem engeren Umfeld bleiben. Die Graffitibilder der Jenfeld-Galerie sollen sie animieren und verführen, von einem Areal in das andere zu spazieren, immer wieder neue Bilder zu sehen, neue Bekanntschaften zu machen und miteinander ins Gespräch zu kommen, auch mit Gästen von außerhalb. BROZILLA: „Wenn das auch noch dazu führt, dass Menschen aus anderen Stadtteilen oder Touristen hier herkommen, extra um sich das anzugucken, dann werden die Jenfelder*innen dadurch irgendwann selbstbewusst sagen: Hey, ich komme aus Jenfeld! Unabhängig davon hoffe ich einfach, dass die Leute am Graffiti vorbeigehen und sich daran erfreuen, es einfach nur wahrnehmen oder sich vielleicht in irgendeiner Form damit auseinandersetzen, auch noch in einem Jahr, selbst wenn sie jeden Tag mit dem Auto vorbeifahren.“

BROZILLAS Anfänge


Mit 12 Jahren entdeckt BROZILLA das Sprühen für sich. Aufgewachsen südlich der Elbe in Hamburg-Harburg macht ihn ein Mitschüler mit der Graffiti-Malerei bekannt, der Kunst der Straße. Autodidaktisch eignet sich BROZILLA nach und nach immer mehr Techniken an. Er beginnt mit dem „Taggen“, Unterschriftenkürzeln, mit denen sich Street-Art-Künstler*innen an Wänden und Bahnwaggons verewigen - zu dieser Zeit häufig noch unerlaubt. Über die Anfangsjahre sagt BROZILLA rückblickend, er habe sich „zunächst intensiv mit der ungefragten Umgestaltung des öffentlichen Raumes auseinandergesetzt“ inkl. „jugendlichem Adrenalin“.

© BROZILLA: Hommage an Salvador Dalí
© BROZILLA: Taggen

New York


Ein wenig Waghalsigkeit und Rebellion begleitete auch die Geburtsstunde von Graffiti in den 70er Jahren. Die erste Sprühdose erfand übrigens schon 1926 der norwegische Ingenieur Erik Andreas Rotheim – eine „nachfüllbare Büchse zum Selber-Sprühen", zunächst für Lack. BROZILLA erzählt über die Anfänge von Graffiti in New York: „Es streiten sich die Geister immer ein wenig darüber, wer denn nun der Erste war, der das erfunden hat. Ich bin der Meinung, TAKI 183 war es, ein Postbote in der Bronx. Der hat immer dort, wo er seine Pakete und Briefe ausgeliefert hat, „183“ an die Wand geschrieben. Das fanden die Kids in der Bronx ganz spannend und so fingen auch sie mit dem Graffiti-Malen an.“ Taki ist der Spitzname bzw. die Koseform des damals 17jährigen Griechen Dimitrios bzw. Dimitraki. 1971 veröffentlicht die New York Times einen Artikel über ihn und erklärt die Ziffer 183 mit Takis Adresse: 183rd Street, Washington Heights, Manhattan.

Europa


Inspiriert von Takis Initialzündung finden sich immer mehr Nachahmer, schließlich auch in Europa: Paris, Amsterdam, London, Lissabon, Berlin. Mit dem Hip-Hop entsteht eine vielschichtige Jugendkultur, neben Graffiti auch Breakdance, DJing und Rap. Hamburg habe früh stilistisch sehr starke Sprüher hervorgebracht, erzählt BROZILLA. „Auch heutzutage gibt es hier noch Graffiti-Sprüher, die immer noch ein on top setzen, also die Entwicklung des Graffiti vorantreiben. Hamburg ist auf jeden Fall kontinuierlich über eine lange Zeit eine große Nummer, bestimmte Akteure sind in der Szene definitiv weltweit bekannt.“

© BROZILLA: Krisen-Graffiti in Bremen

Workshops


Fast überall, wo BROZILLA sprüht, gibt er sein Wissen in Workshops weiter, in Namibia z. B. in einer Grundschule: „Ich bin da vielleicht noch so ein bisschen „old school“ drauf. Früher war es eben Teil der Straßenkultur, dass immer etwas vom eigenen Können an andere weitergeleitet wurde – nach dem Motto: Each one teach one.“ BROZILLA weiß aus eigener Erfahrung, dass die ersten Schritte nicht immer ganz so leicht von der Hand gehen. Graffiti ist Kunst und Handwerk und braucht viel Übung. Normales Zeichnen sei immer eine gute Grundlage, z. B. ein Verständnis über Buchstaben zu haben: „Wie ist ein Buchstabe aufgebaut. Wie kriege ich den zum Tanzen? Was kann ich wie verschnörkeln?“ Begleitend zur Fassadengestaltung wird BROZILLA auch einen Graffiti-Workshop im Jenfeld-Haus anbieten: „Für Leute, die Interesse am Thema haben und noch mal einen anderen Zugang wollen, die einfach mal wissen wollen, wie so ein Graffiti entsteht und wie so etwas geplant wird.“

© BROZILLA: Auftrag der Deutschen Botschaft in Armenien
© BROZILLA: Namensfindung & Stylewriting

Namensfindung BROZILLA


Sein Pseudonym BROZILLA ist in einem längeren Prozess entstanden, mit einem Schuss Selbstironie: „ich fing an mit BROZ, ganz bewusst, weil das doof klingt. Graffiti-Sprüher wollen ja meist irgendwelche fancy Namen, die zeigen, wie tief sie sind und wie cool. Mir war wichtig, dass der Name ein Unikat ist, der bisher auf der ganzen Welt nicht gesprüht wird. Da boten sich schwierige Buchstabenkombination mit einem blöden Klang an. Und dann habe ich mich daran abgearbeitet: Broz-Lee, Broz-one, hello Brozzi, irgendwann auch in Anlehnung an Godzilla am Ende dann halt BROZILLA (mit kurzem o!). Dieser Name ist dann bis heute geblieben.“

Handwerk

Seine Fertigkeiten hat BROZILLA stetig erweitert: vom Stylewriting, d. h. seinen Namen in einer bestimmten Form zu gestalten, zunächst den Hintergrund (Background), dann Schriftzüge zu setzen, sie zu umranden (Outlines), sie im Innern mit Füllungen zu versehen (Fill-In), ihnen mit 3D-Effekten Tiefe zu geben (Blöcke), mit hellen Strichen oder Punkten Lichtreflexe zu setzen (Highlights). Manchmal, z. B. in Workshops, nutzt BROZILLA Schablonen (Stencil), d. h. „ich schneide etwas raus, um später das Motiv hindurch zu sprühen.“


Graffiti ist Miteinander

BROZILLA transportiert mit seiner Kunst durchaus politische Botschaften. „Früher war ich wütender, da habe ich einen deutlich aggressiveren Ausdruck gesucht, um den Leuten mit meinen Bildern “ins Gesicht zu schreien“, sagt BROZILLA. „Heute merke ich, dass mein politischer Anspruch sich auf das menschliche Miteinander richtet – nach dem Motto: Hey, wir sind alle Menschen, egal welcher Hautfarbe, egal welcher Kultur. Wir müssen einfach miteinander reden und uns auseinandersetzen.“ Mit Schwarz-Weiß-Meinungen zu bestimmten Konflikten kann BROZILLA nur noch wenig anfangen. „Ich habe ja immer auch Graubereiche kennengelernt, wenn ich auf der Welt unterwegs war. Ich will mich nicht mehr so radikal positionieren, wie ich das früher getan habe. Ich möchte positive Emotionen in meine Bilder legen, die den Menschen auch ein bisschen Friedfertigkeit mitgeben. Jeder hier in Jenfeld hat eine unterschiedliche Geschichte. Jeder hat ein unterschiedliches Leben und vielfach auch einen unterschiedlichen kulturellen Hintergrund. Die Verbindung ist jedoch, dass alle Menschen diesen Stadtteil gemeinsam prägen und Jenfeld als ihr Zuhause bezeichnen. Genau das möchte ich einfach abbilden.“


Texte, Filme, Podcast-Interview: Antje Hinz, MassivKreativ

© BROZILLA: The Miracle
© BROZILLA
© BROZILLA: unterwegs nach Mauretanien, drive2help

Gerrit Fischer, geboren 1979 in Hamburg, veröffentlicht seit 2008 seine künstlerischen Werke unter dem Pseudonym BROZILLA aktiv, der Name fußt auf den Wurzeln des Künstlers in der Graffiti-Szene. Seit 1994 widmet er sich dem autodidaktischen Studium der Graffiti-Malerei und setzte sich dabei zunächst intensiv mit der ungefragten Umgestaltung des öffentlichen Raumes auseinander. Seit 2012 zeigt BROZILLA seine Leinwandarbeiten auf Ausstellungen, bietet Graffiti- Workshops an und ist für seine großflächigen Wandarbeiten international anerkannt. Mit seinen künstlerischen Arbeiten engagiert sich BROZILLA seit Jahren für gesellschaftliche Randgruppen, setzt sich für Internationalismus, Toleranz und Gerechtigkeit ein, gestaltete ein Krankenhaus in Gambia und initiierte 2018 das BROZILLA Art Project in Namibia, für das er Spenden sammelt, um Jugendliche aus den Townships zu unterstützen, die selbstständige Graffitikünstler:innen werden möchten. Seit einigen Jahren besteht eine enge Zusammenarbeit mit Viva con Agua.

Website BROZILLA

Instagram


Monika Wolff, geboren 1978 in Lauenburg in Pommern (Polen), ist seit Kindertagen von der Fotografie fasziniert. Die erste analoge Kamera bekam sie mit sechs Jahren. In ihrer Jugend wurde sie von der Schwarz-Weiß -Fotografie geprägt und verbrachte viel Zeit mit dem Vergrößern von Bildern. Während der Grafik und Design Schule assistierte sie in Fotostudios, machte Praktika u.a. im Studio von Wolfgang Kaiser und GARP-Agentur für Fotografie und Multimedia. In dieser Zeit entstanden eigene Fotoprojekte und erste Auftragsarbeiten. Menschen rücken in den Fokus ihrer Bilder. So dokumentierte sie u.a. die bunte Vielfalt auf Tattoo Conventions und begann eine Vorliebe für die Street-Fotografie zu entwickeln. Wolff engagierte sich außerdem in stadtteilorientierter Gemeinwesenarbeit, indem sie ihr Wissen in Fotoprojekten mit Kindern- und Jugendlichen teilt. Diese Projekte werden zur Initialzündung für ihr Studium als Diplom Sozialpädagogin mit dem Schwerpunkt interkulturelle Arbeit. Seitdem leitet sie diverse Fotoprojekte in belasteten Stadtteilen, führt Ausstellungen durch, publiziert Kataloge. 2011 wurde sie mit dem nationalen Förderpreis „Bewegte Bilder – Bilder bewegen“ für das Fotoprojekt “Mein Stadtteil ändert sich“ ausgezeichnet. Zuletzt engagierte sich Monika Wolff für zugewanderte junge Menschen. Sie stellte die Fotografie in den Mittelpunkt und gab den Kindern- und Jugendlichen die Gelegenheit, die Stadt Hamburg außerhalb der Wohnunterkünfte zu erkunden.

DANKE!


Die Jenfeld-Galerie wird gefördert durch die Freie und Hansestadt Hamburg - Bezirksamt Wandsbek, Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung (RISE).

© a_mo

Wortakrobat und Ideenstifter: Der Jenfelder Autor Nils Mohl


Nils Mohl ist Jenfelder aus Überzeugung. Der Schriftsteller und Drehbuchautor ist in diesem Stadtteil im Hamburger Osten aufgewachsen. Er lebt bis heute in Jenfeld, obwohl die Medien häufig über diesen Ort im Zusammenhang mit sozialer Benachteiligung, Armut und Gewalt berichten. Nils Mohl will das ändern und eine andere Wahrnehmung des Stadtteils erreichen. Was er gemeinsam mit dem Jenfeld-Haus auf den Weg bringen will, hat er mir im Interview berichtet.

Wahrnehmung

 © a_mo

Nils Mohl bewegt sich mit geschärften Sinnen durch die Welt: aufmerksam hinsehen, genau hinhören, empfindsam hineinfühlen, scheinbar Alltägliches hinterfragen. Wenn Nils Mohl diese besonderen Fähigkeiten aus seinem Werkzeugkasten holt, entstehen überraschende Dinge. Sie eröffnen einen anderen, oft frischen Blick auf die Welt. In seinen Gedichten zeigt er, dass die Welt auch ganz anders sein kann, als sie scheint. Ein Haiku ist ein japanisches Gedicht, das einer strengen Struktur mit drei Zeilen und je 5-7-5-Silben folgt. Bei genauerem Hinsehen verbirgt es aber auch zwei Tiere: Hai und Kuh. Nils Mohl zaubert sie hervor.

Schubkraft 

Nils Mohl macht Verborgenes sichtbar und Alltägliches besonders – sowohl in seinen Gedichten als auch in seinen Romanen. Die Held*innen seiner Bücher sind meist jugendlich, stehen an ersten Wegweisern des Lebens, schwanken voller Fragen und sind zugleich beflügelt von starken Gefühlen, von Jugendträumen und erster Liebe. Diese Mischung wirkt als Treibstoff: für die Held*innen und die Texte von Nils. Sie schäumen und brodeln, packen und erregen, in gedruckter Form und adaptiert für die Leinwand. Für zwei Kinofilme hat Nils Mohl die Drehbücher verfasst: „Es war einmal Indianerland“ und „Es gilt das gesprochene Wort“, das den Deutschen Filmpreis in Bronze erhielt.

Ränder

 © a_mo

Nils Mohl eröffnet Themen, die viele von uns aus eigener Erfahrung irgendwie kennen, die aber auch in fremde Welten führen, in Welten am Rand, die normalerweise nicht im Fokus stehen. Sein Roman Es war einmal Indianerland, 2012 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet, spielt in einer Hochhaussiedlung in einem schwierigen sozialen Umfeld. Der junge Protagonist spürt innere Zerrissenheit: eine belastende Vergangenheit mit Gewalt, aber zugleich auch Auswege, Liebe, Zukunftsperspektive. 


 © a_mo 

Brückenbauer 

Auf seinem Roadtrip lernt der junge Held Entscheidungen zu fällen, wie wir alle sie immer wieder im Leben zu treffen haben. Nils Mohl macht die Figuren und Themen auch für jene Leser*innen/Zuschauer*innen nahbar, die sich in anderen sozialen Milieus bewegen. Er selbst ist in behüteten Verhältnissen aufgewachsen, doch aus seiner schreibpädagogischen Arbeit kennt auch andere Lebensrealitäten, Kinder und Jugendliche, die auf sich allein gestellt sind mit weitaus härteren Startbedingungen, als er sie selbst hatte. Nils Mohl ist ein Brückenbauer. Mit der Kraft der Worte und der Imagination verbindet er Welten und zaubert uns Bilder in den Kopf, die uns zeigen, dass die Welt auch anders aussehen kann, wenn wir es nur wollen. 

Status Quo

Als die Welt durch Corona still steht, ist die Zeit reif, aus fiktiven Welten auszubrechen. Bei längeren Streifzügen durch Jenfeld werden Fragen drängender, die Nils Mohl im echten Lebensumfeld schon lange bewegen. In Olaf Schweppe-Rother, dem Leiter des Bürgerhauses und Community-Treffpunktes Jenfeld-Haus, findet er einen Gleichgesinnten, der für seine Fragen offen ist: Warum ist Jenfeld so wie es ist? Ist es hier wirklich nur so, wie es medial dargestellt wird? Warum greifen Medien immer nur die Schreckensszenarien auf? Warum wird nicht über „gute Nachrichten“ aus Jenfeld berichtet? Was könnten gute Nachrichten sein? Beide tauschen sich über die öffentliche Wahrnehmung des Stadtteils aus und über den Status Quo. 



Benachteiligung

Nils Mohl erinnert sich an die gemeinsamen Überlegungen: „Wir fragten uns: Was also müsste geschehen, damit Jenfeld ein attraktiver Stadtteil wird? Ist das überhaupt möglich? Und wie könnte das gehen?“ Nils Mohl entdeckt Parallelen zu Wilhelmsburg auf der Elbinsel im Süden von Hamburg. Durch die Elbe vom Stadtkern abgeschnitten lasteten auch diesem Quartier lange nur einseitige Bilder an: hoher Migrationshintergrund, Armut, Bildungsferne, viel Kriminalität. Doch dann veränderte sich etwas, Wilhelmsburg wurde durch verschiedene Projekte aufgewertet. Als Hommage an Wilhelmsburg dreht Regisseur Fatih Akin 2009 seinen preisgekrönten Film „Soul Kitchen“ in der von Einsturz bedrohten Fabrikhalle, die zum Partymekka wurde und trotz Schließung bis heute ein wichtiger Identifikationsort im Stadtteil ist.

Wandel

2013 finden auf der Elbinsel die Internationale Bauausstellung und Gartenschau igs statt. Zehntausende besuchen das Wilhelmsburger Quartier, viele Hamburger*innen zum ersten Mal, staunen über die attraktive wasserreiche Umgebung und die quirligen Bewohner*innen. Auch sportliche Aktivitäten wandeln den Blick. Seit 2005 können sich Kinder in Wilhelmsburg beim Basketball erproben, betreut von professionellen Trainern. Eine Profimannschaft wird aufgebaut, die Hamburg Towers, die 2019/2020 den Sprung in die Bundesliga schafft. Turniere und Punktspiele bringen gegnerische Mannschaften in den Stadtteil und mit ihnen Betreuer*innen, Freunde, Eltern und Verwandte. Nils Mohl kommt durch seinen Basketball-spielenden Sohn nach Wilhelmsburg und beobachtet an sich selbst, wie grundlegend sich die Wahrnehmung für ein Quartiers wandeln kann. 


 © a_mo 

New York

Ähnliche Erfahrungen wiederholen sich bei einer Reise nach New York. Nils Mohl fährt zufällig mit dem Fahrrad durch den Stadtteil Bushwick im Norden des Stadtbezirks Brooklyn und ist fasziniert von dessen Buntheit und Weltoffenheit: „Künstlerateliers und hunderte von Graffiti-Wandbildern in den Straßen haben aus dem ehemals verarmten, trostlosen und kriminellen Ort ein cooles und angesagtes Szenequartier gemacht. Heute lockt es tausende Besucher an und ist längst kein Geheimtipp mehr. Die Graffiti-Kunst hat dem Stadtteil zu einem enormen Ansehen verholfen.“ Lassen sich solche Erfahrungen mit nach Hamburg nehmen und übertragen? 


 © a_mo 


Transfer

Nils Mohl erinnert sich: „Ich habe überlegt: Okay, wir haben in Jenfeld nicht viel, aber wir haben Hauswände. Und die können wir doch zur Verfügung stellen. Wir bringen Kunst drauf und dann entsteht ein toller Effekt, wenn man da durchgeht wie in Bushwick.“ Die wenigsten Bewohner*innen würden dort wohl ein echtes Museum besuchen, so Nils Mohl, aber „jetzt müssen sie das auch gar nicht mehr, weil die Kunst zu ihnen gekommen ist. Wie ich finde, auf beeindruckende Weise“. Inzwischen gibt es in Bushwick geführte Stadttouren, neu entstandene Cafés und jedes Jahr ein Fest, bei dem neue Wände besprüht und bemalt werden. Und das zieht dann wieder neue Besucher*innen an. „Diese Dinge fand ich so sympathisch, dass ich Olaf Schweppe-Rother vom Jenfeld-Haus davon erzählt habe. Und wir fanden beide, dass das eine Sache ist, die Jenfeld mit New York verbindet. Und so kam uns die Idee, dass wir hier auch so eine Galerie entstehen lassen können.“ 


 © a_mo 

Selbstwertgefühl 

Kreativität heißt: vorhandene Dinge und Erfahrungen neu zu verbinden. Nils Mohl trifft bei Olaf Schweppe-Rother auf offene Ohren. Er greift die Projektidee auf und treibt sie nun unter dem Namen „Jenfeld-Galerie“ weiter voran, gemeinsam mit Partner*innen. Das Konzept: Eine Fotografin (Monika Wolff) portraitiert Menschen aus dem Stadtteil, ein bekannter Graffiti-Künstler (Gerrit Fischer alias Brozilla) stilisiert sie zu Collagen und überträgt die Entwürfe auf die große Leinwand, direkt am Jenfeld-Haus. Die Mission: ein Open-Air- bzw. Freiluft-Museum zu schaffen, das zu den Menschen kommt. Schweppe: „Zunächst einmal zu den Bewohner*innen in Jenfeld. Die Graffiti-Wandbilder sollen ihnen das Gefühl geben, dass sie und ihr Stadtteil etwas ganz Besonderes sind.“ 


Kollaboration

Wenn dann auch die ersten neugierigen Gäste nach Jenfeld kommen und den Stadtteil besser kennenlernen wollen, werden Außenwahrnehmung, Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein der Bewohner*innen in Jenfeld wachsen. Dies dürfte auch im Sinne der Kooperationspartner*innen sein, die Olaf Schweppe-Rother im Stadtteil für das Vorhaben „Jenfeld-Galerie“ gewinnen konnte: als Förderer die Freie und Hansestadt Hamburg bzw. das Bezirksamt Wandsbek im Rahmen von RISE, dem Rahmenprogramm Integrierte Stadtteil-Entwicklung (kurz RISE), sowie als Partner im Stadtteil die Quadriga gGmbH, die aus der Gemeinwesenarbeit der Vereine „Pack an“ bzw. dem Stadtteilbüro Jenfeld, der Kulturinitiative Jenfeld und dem Jugendzentrum Jenfeld entstanden ist. Das gemeinsame Ziel: Stadtentwicklung, Jugend-, Kultur- und Sozialpolitik zu bündeln.

Teilhabe

Olaf Schweppe-Rother sagt: „Gute und gelingende Projekte entstehen heute in Netzwerken.“ Die Jenfeld-Galerie passt hervorragend in das RISE-Programm, mit dem der Hamburger Senat den Zusammenhalt in der Stadt stärken und die Lebensqualität in den Quartieren verbessern will, auch in Jenfeld. Nils Mohl erklärt das Potenzial der Jenfeld-Galerie für die Mission von RISE: „Veränderungen sollen zusammen und im Dialog mit den Bürger*innen initiiert werden. Die Jenfeld-Galerie kann einen Impuls geben. Das ist der Vorteil von visueller Kunst, dass sie allen zugänglich ist, unabhängig davon, welcher Sprache man mächtig ist. Es gibt eine Menge Nationalitäten hier in Jenfeld. Es wäre schön, wenn durch diese Bildersprache etwas entsteht, das nicht übersehbar ist und jeder versteht. Das ist der Vorteil bei diesen großen Wandgemälden, mit Hilfe von Graffiti eine Metapher dafür zu finden, dass alle zusammen dem Stadtteil ein eigenes Gesicht geben, dass also jeder, der hier in diesem Stadtteil lebt, Anteil daran hat, auch daran, wie der Stadtteil nach außen wahrgenommen wird.“

Strahlkraft 

Nils Mohl hofft, dass das Vorhaben Kreise ziehen wird, dass nach der Fertigstellung des Auftaktwandbildes am Jenfeld-Haus im Sommer 2022? / im Herbst 2022? weitere Hauswände freigegeben werden, damit die Jenfeld-Galerie weiter in den Stadtteil hineinwachsen kann. Das würde Strahlkraft nach außen tragen und positiv auf den Stadtteil zurückwerfen. Was auch immer passiert, der erste Impuls ist schon jetzt gesetzt, meint Nils Mohl: „Ich finde es ganz toll, was wir allein schon durch die Gespräche voneinander und miteinander gelernt haben. Ich hoffe, dass im Laufe der Zeit immer mehr Menschen dazu kommen und Lust darauf haben, diese Sache zu unterstützen.“


Text und Podcast-Interview: Antje Hinz, MassivKreativ


NiLS MoHL, geboren 1971, lebt als freier Schriftsteller und Drehbuchautor in seiner Heimatstadt Hamburg im Stadtteil Jenfeld. Zuletzt erschienen bei Rowohlt die Romane „Es war einmal Indianerland“, „Stadtrandritter“, „Mogel“ und „Zeit für Astronauten“. Bei mixtvision die Gedichtbände könig der kinder und tänze der untertanen und bei Tyrolia An die, die wir nicht werden wollen. Alle Bücher handeln vom Jungsein und Erwachsenwerden. 

An zwei Kinofilmen ist er als Drehbuchautor beteiligt gewesen: „Es war einmal Indianerland“ und „Es gilt das gesprochene Wort“ (Deutscher Filmpreis in Bronze). 

Seit 2020 veröffentlicht Nils Mohl jeden Montag ein Gedicht auf Instagram.

Gern gibt Nils Mohl sein Wissen über das Erzählen und Schreiben weiter. Als Dozent hat er u. a. an der Uni Hamburg, für die Textmanufaktur, das Deutsche Theater Berlin, am Hamburger Schauspielhaus und am Hamburger Literaturhaus Seminare, Workshops und Kurse geleitet. Außerdem berät er Autorinnen und Autoren als Coach und Dramaturg.


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Jenfeld Galerie


Wir wollen aus Jenfeld eine Galerie gestalten. Wir wollen, dass sich etwas bewegt, dass die Menschen aufgefordert sind, hinzuschauen, ihre Umgebung wieder wahrzunehmen. Raus aus der Lethargie. Wir schaffen das, indem wir Impulse setzen. Und wir wollen groß denken. Die Ideen und Vorstellungen sollen über die Grenzen des Reviers (Jenfeld Zentrum, RISE-Gebiet) hinaus ausstrahlen.


Initialzündung war zum einen die Pandemie und zum anderen das Ansinnen des in Jenfeld lebenden Autors Nils Mohl, die Fassadenkunst in Jenfeld auf die Tagesordnung zu heben, sowie der Bedarf, im Rahmen des RISE-Projektes, dem Rahmenprogramm Integrierte Stadtteil-Entwicklung, ein ansprechend künstlerisches und kulturelles Projekt auf den Weg zu bringen. Das Projekt kann sukzessive angestoßen und in Fahrt gebracht werden: Wenn anfangs erst einmal nur eine Fassade in die Galerie aufgenommen wird, können später weitere Flächen folgen. Zudem können weitere Bestandteile hinzugefügt werden, oder ausgetauscht werden. Das Projekt ist offen für Korrekturen und Ergänzungen.


Nach Überwindung der Pandemie werden sich wieder andere Chancen entwickeln. Das Projekt soll deswegen in Teilabschnitten realisiert werden. So können später weitere Träger, Förderer und Institutionen eingebunden werden. Wir wollen hinaus und den Gedanken Freiräume schaffen. Damit steigt das Selbstwertgefühl und die Lebensqualität der BewohnerInnen. Damit die Fassadenkunst lange auf dem Untergrund hält - wird erst einmal die Fassade neu beschichtet. Ende November 2021 wurde das Gerüst gestellt...


Gefördert durch die Freie und Hansestadt Hamburg - Bezirksamt Wandsbek, Rahmenprogramm Integrierte Stadtentwicklung (RISE).

 © a_mo

DANKE!

Die Jenfeld-Galerie wird gefördert durch die Freie und Hansestadt Hamburg - Bezirksamt Wandsbek, Rahmenprogramm Integrierte Stadtteilentwicklung (RISE)"

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